Warum der PV Wert bei der Gleitlager-Wahl nur bedingt hilft
Lars Butenschön | 6. September 2018
…und wie man trotzdem an das richtige Gleitlager kommt – Das wollen wir uns in diesem Beitrag einmal näher anschauen. In der Praxis ist der PV-Wert eines der wichtigsten Kenngrößen zur Auswahl von Gleitlagern. Er liefert jedoch keinerlei Informationen darüber, wie lange das Gleitlager am Ende in der Maschine hält. Weder ist es weise, einfach das Gleitlager mit dem höchsten Wert einzukonstruieren („Viel hilft viel!“), noch funktionieren Gleitlager mit höherem PV-Wert grundsätzlich besser als solche mit niedrigerem.
Der PV Wert heißt PV Wert, weil er das Produkt aus „P“ und „V“ ist. P ist der Druck – und da „Druck“ so viele P´s enthält ist das natürlich sehr einprägsam (es steht für engl. „pressure“). Im Falle unserer Gleitlager stellt P die sogenannte Flächenpressung dar. Der Praktiker macht sich hier das Leben leicht und teilt einfach die auftretende Last in Newton (ebenfalls für Praktiker: Gewicht in kg x 10, für Physiker: Gewicht in kg x 9,80655 🙂 ) durch den Traganteil des Gleitlagers.
Wer sich an den Blog post mit der Butter erinnert: Der Traganteil ist die projizierte Fläche des Lagers. Also Länge mal Innendurchmesser. Durch Teilen der Last durch die Fläche erhalten wir also unser P in N/mm². Anschließend brauchen wir noch das V. Ebenfalls sehr einprägsam steht V für Geschwindigkeit bzw. velocity. Sie wird üblicherweise in m/s angegeben und beschreibt die Geschwindigkeit, mit der die Wellenoberfläche am Gleitlager-Innendurchmesser vorbeigleitet. P und V multipliziert ergibt dann den PV-Wert. Und jetzt?
Den Erkenntnisgewinn, den Berechnung und Vergleich mit sich bringen, kann man anhand eines kleinen (nicht sehr) wissenschaftlichen Experiments nachvollziehen. Man lege die Hand flach auf die Tischplatte vor sich und schiebe diese mit geringer Geschwindigkeit leicht über den Tisch. Je nach Umgebungstemperatur merkt man nun einen gewissen Temperaturanstieg auf der Handfläche. Fester drücken – also P erhöhen und schneller reiben – also V erhöhen, führen zu höheren Temperaturen.
Das heißt: Das Produkt aus Druck und Geschwindigkeit beschreibt die Wärmeentwicklung.
Wärmeentwicklung ist für Gleitlager ein wichtiger Wert. Vor allem für Gleitlager aus Kunststoff. Mehr noch als andere Werkstoffe, ändern Kunststoffe ihre mechanischen Eigenschaften bei erhöhten oder sehr niedrigen Temperaturen. Steigt die Temperatur in der Lagerstelle über die zulässige Temperatur des Werkstoffs an, folgt in den meisten Fällen der Ausfall des Lagers.
Um diesen Fall zu vermeiden, ermittelt man nun also den PV-Wert der vorliegenden Anwendung und gleicht diese mit dem maximal zulässigen Wert des in Frage kommenden Gleitlagers ab. Doch es gibt einige Probleme mit dieser Methode:
Der Maximal zulässige PV-Wert ist veränderlich und setzt sich aus verschiedenen Einflussgrößen zusammen.
- Umgebungstemperatur: Im günstigen Fall lässt sich durch senken der Umgebungstemperatur (kühlen) der max. zulässige PV Wert senken. Umgekehrt bedeutet das natürlich, dass der Wert, der laut Datenblatt für die Anwendung noch völlig ausreichend war bei Erhöhung der Umgebungstemperatur plötzlich nicht mehr ausreicht.
- Reibwerte: Die im Lager auftretende Reibung beeinflusst die Wärmeentwicklung. Da diese Reibung aber selten konstant und kein zuverlässig berechenbarer Wert ist, sondern nur grob definiert wird, gibt es auch hier Schwankungen.
- Gehäusematerial: Ein entscheidender Faktor für den maximal zulässigen PV Wert sind die Wärmeleitwerte der beteiligten Bauteile. Nicht nur die Wärmeleitfähigkeit des Gleitlagers, sondern auch die der Aufnahme und der Welle sind wichtig. Wird das Gleitlager in ein massives Kunststoffteil eingepresst oder läuft sie gar auf einer Kunststoffwelle, wirkt sich das negativ auf den zulässigen PV Wert aus.
Und dann wäre da noch der Verschleiß…
Der entscheidende Punkt, der in dieser Betrachtung jedoch fehlt, ist der Verschleiß. Und damit die Betrachtung der Lebensdauer oder Standzeit des Lagers. Der maximal zulässige PV Wert sagt wenig darüber aus, wie widerstandsfähig das Gleitlager gegen Verschleiß ist. Das bedeutet, dass man hieraus nicht direkt ableiten kann, wie lange das Gleitlager in der Anwendung hält. Ein Gleitlager mit einem hohen maximal zulässigen PV Wert muss ganz und gar nicht länger halten als eines mit niedrigerem. Selbst Gleitlager mit ähnlichen Werten liefern unterschiedliche Ergebnisse, wie die folgende Zusammenfassung eines Verschleißtests darstellt.
Der PV Wert ermöglicht eine Vorauswahl. Nicht viel mehr und nicht viel weniger. Liegt der PV Wert der Anwendung deutlich an oder über dem maximal zulässigen Wert des ins Auge gefassten Gleitlagers, ist Vorsicht geboten. Landet man am Ende jedoch bei mehreren laut Wert geeigneten Kandidaten, sollte man nicht einfach das mit der größten „Reserve“ verwenden. Stattdessen ist es ratsam unter möglichst realistischen Bedingungen zu testen. Entweder selbst, direkt in der bereits laufenden Anwendung, oder auf Prüfständen. Manche Gleitlager-Hersteller bieten hier auch Testmöglichkeiten und Standard-Prüfverfahren an. Auch Expertensysteme oder Selektionsttools sind hier eine gute Hilfe.
So bietet igus zum Beispiel ein Expertensystem an, das sich aus einer Vielzahl von Versuchen unterschiedlichster Szenarien speist. So ist eine recht genaue Vorauswahl möglich, die sogar eine Auskunft über die Lebensdauer der dort angebotenen iglidur® Kunststoffe und damit die Auswahl des günstigsten Lagers mit der besten Performance ermöglicht. Doch auch hier gilt – Am besten in der eigenen Anwendung testen.